Weekender 2018

Mr. Gay Syria

F/TK/D 2017, 80 Min., arabische Originalfassung mit deutschen Untertiteln, Regie: Ayşe Toprak

Es ist nicht die erste Tür, an die Samia klopft. Und auch Abla will die schwangere junge Frau wegschicken, die aus heiterem Himmel auftaucht und um Hilfe bittet. Doch Ablas achtjährige Tochter Warda hat andere Vorstellungen, und so nimmt sie schließlich nach langem Hadern die verlorene Seele für ein paar Nächte bei sich auf.
Dieses bescheidene, einfühlsame Regiedebüt zeigt, wie sehr das Leben dieser beiden Frauen von der patriarchalischen Gesellschaft Marokkos geprägt ist. Samia, unverheiratet und schwanger, läuft vor irgendetwas auf den Straßen von Casablanca davon. Für Abla, verwitwet und alleinerziehend, sind ihr kleines Haus und die Bäckerei, die sie betreibt, eine Festung, die sie vor der Außenwelt schützt.
Die Frauen, subtil gespielt von Loubna Azabal und Nisrin Erradi, nähern sich allmählich einander an und wir erfahren schrittweise, wie sie zu dem wurden, was sie sind – ein wenig wie die Zutaten für Ablas Brot, die ihre Geheimnisse nur dann preisgeben, wenn sie mit Geschick und Liebe zusammen geknetet werden.

Die dritte Option

A 2017, 75 Min., deutsche Fassung, Regie: Thomas Fürhapter

Was tun, wenn man erfährt, dass man ein behindertes Kind erwartet? Ausgehend von dieser Frage entwickelt Thomas Fürhapter seinen komplexen filmischen Essay: Die dritte Option setzt Einzelschicksale im Zeitalter von Pränataldiagnostik und Biopolitik in einen radikal gegenwärtigen und gesellschaftspolitischen Zusammenhang. Schicht um Schicht wird der Blick freigeräumt auf grundsätzliche Fragen zu Geburt, Ethik und Norm – so wird das, was nur Wenige betrifft, zu etwas, das alle angeht.

Ein brisanter Film über die biopolitischen Implikationen der Pränataldiagnostik und ein filmischer Essay, der keine Fragen beantwortet – und sich auch nicht anmaßt, ein moralisches Urteil zu fällen. Aber er traut sich, die Fragen, die sich bei diesem brisanten Thema auftun, laut und klar zu stellen. Allen voran: Sind wir eigentlich noch normal?

#keinschlusstrich

Tiefenschärfe

D 2017, 14 Min., deutsche Fassung, Regie: Mareike Bernien & Alex Gerbaulet

Tiefenschärfe liest in den Markierungen der Orte in Nürnberg, an denen der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) zwischen 2000 und 2005 drei Morde verübte. Das Bodenlose der Taten lässt als formales Element die horizontale Bildachse immer wieder aus dem Lot geraten. So findet ein Ausloten, Irritieren und Verschieben von Realitätsebenen statt, das den Erschütterungen dieser scheinbar unskandalisierbaren Angriffe des NSU auf die Wirklichkeit der (post-)migrantischen Gesellschaft nachspürt.

77sqm_9:26min

D/GB 2017, 29 Min., deutsche Fassung, Regie: Forensic Architecture

2006 wurde Halit Yozgat im familienbetriebenen Internetcafé in Kassel getötet. Halit war das neunte Opfer der rassistisch motivierten Mordserie des sogenannten NSU. Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme war zur Tatzeit anwesend, behauptet jedoch, nichts von dem Mord mitbekommen zu haben. Im Auftrag der documenta 14 rekonstruierte das Team von Forensic Architecture die Geschehnisse und überprüfte Temmes Aussage.

Bild des Tages

The Picture of the Day, D, CA 2016, 91 Min., deutsche Fassung, Regie: Jo-Anne Velin

Als der Bürgermeister von Tröglitz zurücktreten musste, weil er sich für Flüchtlinge eingesetzt hatte, und wenig später deren Heim brannte, drängten sich die Kamerateams in der kleinen Gemeinde in Sachsen- Anhalt. Als der Medientross abzog, kam Jo-Anne Velin – und blieb. Elf Monate, zwischen dem Anschlag und den Regionalwahlen (bei denen die Rechtspopulisten haushoch siegten), verbrachte sie mit den Einwohnern des Ortes.

Als Kanadierin brachte Velin das Fremde mit und entdeckt bemerkenswerte Linien, die zu vielfältig genutzten KZ-Baracken in der Gegend und schließlich zu Imre Kertész führen. Doch nicht nur auf der Zeitachse stellt sie Verbindungen her, sondern auch geografisch. Immer wieder montiert sie Bilder von Flüchtlingen bei der Überfahrt nach Europa mit denen der Menschen von Tröglitz. Das könntest du sein, sagen diese Bilder. Und – weiter gedacht – auch du bist Tröglitz. Ein mutiger Schritt. (Grit Lemke)